Im Umgang mit Pferden ist ein grundlegendes Verständnis von der Sinneswahrnehmung der Tiere unerlässlich. Besonders die Sichtweise – also die Art, wie Pferde sehen – unterscheidet sich stark von der des Menschen und erklärt viele typische Verhaltensweisen des Pferdes. Wer „pferdisch“ versteht, kann sicherer und vorausschauender mit dem Tier umgehen.
Das Sehvermögen – Weitwinkel statt Fokus
Pferde sind Fluchttiere. Ihr Sehvermögen ist evolutionär darauf ausgerichtet, potenzielle Gefahren frühzeitig zu erkennen. Die Augen eines Pferdes liegen seitlich am Kopf – im Gegensatz zum Menschen, dessen Augen nach vorne gerichtet sind. Dadurch haben Pferde ein enormes Sichtfeld von etwa 320 Grad, während der Mensch nur etwa 180 Grad abdeckt. Das bedeutet: Pferde können fast alles um sich herum wahrnehmen, ohne den Kopf zu bewegen. Allerdings gibt es zwei tote Winkel: direkt vor der Stirn und genau hinter dem Schweif. Nähern sich Menschen oder Tiere aus diesen Bereichen, kann das Pferd erschrecken. Es „sieht“ den Annähernden nicht rechtzeitig. Daher ist es wichtig, sich Pferden stets von der Seite und mit Ansprache zu nähern.
Monokulares und binokulares Sehen
Pferde sehen ihre Umgebung mit jedem Auge einzeln (monokulares Sehen) – das heißt, jedes Auge verarbeitet ein eigenes Bild. Das ermöglicht zwar ein breites Sichtfeld, allerdings ist das Sehen mit nur einem Auge unscharf. Nur in dem Bereich vor dem Kopf überlappen sich die beiden Sehfelder der Augen, so dass hier das dreidimensionale, scharfe Sehen (binokulares Sehen) möglich ist. Deshalb bleiben Pferde bei unbekannten Gegenständen oft stehen oder nähern sich ihnen vorsichtig seitlich, um zu „prüfen“, ob der Gegenstand gefährlich sein könnte.
Farbwahrnehmung und Kontraste
Pferde sehen farblich eingeschränkter als der Mensch. Während Menschen drei Farbrezeptoren (Zapfen) besitzen, haben Pferde nur zwei. Sie nehmen vor allem Blau- und Gelbtöne wahr, während Rot- und Grüntöne eher grau erscheinen.
Helligkeitskontraste nehmen Pferde deutlicher wahr als Menschen. Beispielsweise Pfützen auf dem Reitplatz oder ein Schattenwurf auf dem Reithallenboden können zu Reaktionen führen, die für den Menschen zunächst nicht nachvollziehbar sind.
Umstellung von Hell zu Dunkel und anders herum
Bei veränderten Lichtverhältnissen braucht das Pferd länger als der Mensch, um sich an das neue Licht zu gewöhnen. Diese längere Adaptionszeit sollte der Mensch immer im Hinterkopf behalten, wenn Pferde verladen oder aus einer Stallgasse ins Sonnenlicht geführt werden. Im ersten Moment sehen die Tiere zunächst nichts – sie folgen auf Vertrauensbasis. Hat sich das Pferdeauge allerdings an eine dunklere Umgebung gewöhnt, sehen die Tiere besser als der Mensch, da ihre Augen an das Sehen bei wenig Licht angepasst sind.
Verhalten verstehen – Sicherheit schaffen
Viele als schreckhaft interpretierte Verhaltensweisen sind direkt auf die Sinneswahrnehmung zurückzuführen. Nur mit diesem Grundwissen ist es möglich, einige Reaktionen der Tiere vorausschauend zu erkennen und Unfälle im Umgang zu vermeiden. Denn Pferde handeln nicht ungehorsam, sondern instinktiv – mit dem Ziel, sich zu schützen.